Ein Hoch auf den Neuanfang:
​
Hannah Arendt
Die Freiheit, frei zu sein
Haben Sie schon einmal von Jerome Kohn gehört? Ich kannte ihn leider nicht, bis mir "Die Freiheit, frei zu sein" praktisch in die Hände fiel, so überfüllt war das schmale Regal, in dem sich die Spiegel-Bestseller des Monats stapelten.
Jerome Kohn, ehemaliger Assistent von Hannah Arendt, ist Leiter des Hannah-Arendt-Zentrums der New School for Social Research in New York und hat bereits einige bislang unveröffentlichte Texte der Philosophin herausgegeben, 2017 nun diesen. Er stellte ihn online und wählte, in Anlehnung an Henry David Thoreau (in "Life Without Principle", 1863), den Titel "The Freedom to be free" unter dem der Essay im selben Jahr in der Zeitschrift "New England Review" erschien (New England Review, Volume 38, Number 2, 2017 pp. 56-69.)
Im Januar 2018 folgte eine deutsche Ausgabe bei dtv, erweitert um ein lesenswertes Nachwort des Philosophen Thomas Meyer.
"Bemerkenswert aktuell" sei der Text von 1967, darin sind sich alle Rezensionen einig. Thomas Meyer schreibt, der Essay schärfe das Gespür für die Möglichkeiten politischer Veränderungen und versetze in Unruhe.
Tatsächlich sind die Kernthemen des Essays, Freiheit und Revolutionen, universell aktuell. Hannah Arendt vergleicht zwei Revolutionen unter der Herausarbeitung eines schärferen Freiheitsbegriffs: Die Amerikanische Revolution und die Französische Revolution.
Außenpolitik (in diesem Fall die amerikanische) habe eigentlich keine Ahnung, was Revolutionen bedeuteten und welche Relevanz, welches gestalterische Potential aus ihnen entspringe, so Arendt (Vgl. Arendt 2018, S. 10). Konsequent und präzise zeichnet sie im Folgenden die Entwicklung des Begriffs "Revolution" nach, der zunächst, mit astronomischer Verknüpfung, die rückläufige Bewegung zu einem in Vorhinein angenommenen Punkt, ein Zurückschwingen in eine vorgegebene Ordnung beschrieben habe. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht mehr verwunderlich, dass Thomas Paine, einer der Gründerväter der USA, den Begriff "Gegenrevolution" für die Französische und Amerikanische Revolution verwenden wollte.
Arendt schreibt:
​
“Was Ende des 18. Jahrhunderts tatsächlich geschah, war demnach Folgendes: Der Versuch, alte Rechte und Privilegien wiederherzustellen und wiederzubeleben, mündete in das genaue Gegenteil - in eine nach vorn gerichtete Entwicklung und die Eröffnung einer Zukunft, die allen weiteren Versuchen, in Kategorien einer zirkulären oder ‘revolvierenden’ Bewegung zu handeln oder zu denken, trotzte." (S.14)
Der Begriff "Revolution" erfuhr eine radikale Veränderung. Ähnliches, nur ungleich Komplizierteres, sei mit dem Begriff der Freiheit geschehen - und Freiheit scheint uns heute unbestreitbar das Ziel dieser Revolutionen gewesen zu sein:
"Entscheidend ist, dass sich eine Befreiung von Unterdrückung auch unter einer monarchischen (aber nicht tyrannischen) Regierung hätte erreichen lassen, wohingegen die Freiheit einer politischen Lebensweise eine neue, oder besser: wiederentdeckte Regierungsform erforderte. Sie verlangte nach der Verfassung einer Republik." (S.17)
​
Tatsächlich war also die Einbindung der Freiheit und die Herausbildung eines bestimmten Freiheitsbegriffs, Kernbestandteil der Diskussionen um die Staatsform, die beide Revolutionen begleitete:
​
“Die Männer der ersten Revolutionen wussten zwar sehr wohl, dass Befreiung der Freiheit vorangehen musste, waren sich aber noch nicht der Tatsache bewusst, dass eine solche Befreiung mehr bedeutet als politische Befreiung von absoluter und despotischer Macht; dass die Freiheit, frei zu sein, zuallererst bedeutete, nicht nur von Furcht, sondern auch von Not frei zu sein.” (S.24)
"Eine der wichtigsten Konsequenzen der Revolution in Frankreich war es, dass sie zum ersten Mal in der Geschichte le peuple auf die Straßen brachte und sichtbar machte. Als das geschah, stellte sich heraus, dass nicht nur die Freiheit, sondern auch die Freiheit, frei zu sein, stets nur das Privileg einiger weniger gewesen war. Aus dem gleichen Grund jedoch blieb die Amerikanische Revolution weitgehend folgenlos für das historische Verständnis von Revolutionen, während die Französische Revolution, die krachend scheiterte, bis heute bestimmt, was wir heute als revolutionäre Tradition bezeichnen.” (S.25-26)
Wie ein Hinweisschild deutet das unmittelbare politische Scheitern der Französischen Revolution auf die ungleiche Verteilung der Freiheit, frei zu sein - ein Privileg, das stets nur Wenigen zukam. Mit Hannah Arendt gedacht, setzt Freiheit sich aus zwei Aspekten zusammen: Der Freiheit von Not (Freiheit von) und der Freiheit von Furcht (die eine Freiheit zu, im Sinne politischer Beteiligung oder künstlerischer Tätigkeit initiieren kann).
​
"Nur diejenigen, die die Freiheit von Not kennen, wissen die Freiheit von Furcht in ihrer vollen Bedeutung zu schätzen, und nur diejenigen, die von beidem frei sind, von Not wie von Furcht, sind in der Lage, eine Leidenschaft für die öffentliche Freiheit zu empfinden, in sich diesen goût pour la liberté und den spezifischen Geschmack an der egalité zu entwickeln, den die Freiheit in sich trägt.” (S.26)
​
Nur diese können sich dann in vollem Maße an öffentlichen Angelegenheiten beteilgen - eine Schlussfolgerung, die auch darauf verweist, wie unabdinglich die Idee der Gleichheit (der Gleichberechtigung) für ein im Sinne der Freiheit funktionierendes Staatswesen sein muss.
Die Lehren, die Hannah Arendt aus ihrer Analyse zieht, sind folgende: Die Überwindung der Armut ist eine Voraussetzung für die Begründung der Freiheit. Befreiung von der Armut aber, ist etwas anderes als die Befreiung von politischer Unterdrückung. "Ein gewaltsames Vorgehen gegen die sozialen Verhältnisse führte stets zu Terror, der losbricht, nachdem das alte Regime beseitigt und das neue Regime installiert wurde und der Revolutionen dem Untergang weiht oder sie so entscheidend deformiert, dass sie in Tyrannei und Despotismus abgleiten." (S.34)
Revolutionen und Freiheit können nicht ohne Verantwortungsübernahme funktionieren, ließe sich anschließen.
​
Was sich neben der Begriffs- und Konzeptanalyse außerdem durch den Essay zieht, ist der Bezug auf den Dichter Vergil, der die Geburt als solche und die Möglichkeit eines Novus Ordo Saeclorum preist: "Hier wird die Göttlichkeit der Geburt beschworen und die Überzeugung, wonach die potenzielle Rettung der Welt allein darin begründet liegt, dass sich die menschliche Gattung immer wieder und für immer erneuert” (vgl. S. 36-37), schreibt Hannah Arendt, die ein katastrophales Jahrhundert erlebt hat.
"Was die Männer der Revolution auf gerade dieses antike Gedicht zurückgreifen ließ, war, neben ihrer Bildung, meiner Ansicht nach die Tatsache, dass nicht nur die vorrevolutionäre Idee der Freiheit, sondern auch die Erfahrung, frei zu sein, mit dem Beginn von etwas Neuem, mit - metaphorisch gesprochen - der Geburt eines neuen Zeitalters zusammenfiel, oder besser: eng damit verwoben war. Man hatte das Gefühl: Frei zu sein und etwas Neues zu beginnen, war das Gleiche. Und diese geheimnisvolle menschliche Gabe, die Fähigkeit, etwas Neues anzufangen, hat offenkundig etwas damit zu tun, dass jeder von uns durch die Geburt als Neuankömmling in die Welt trat. Mit anderen Worten: Wir können etwas beginnen, weil wir Anfänge und damit Anfänger sind.” (S.37)
​
Hier lässt sich mit Hannah Arendt meiner Meinung nach auch die Unverzichtbarkeit utopischen Denkens, was etwas ganz anderes als reines Fortschritts- und Wachstumsdenken ist, hervorheben (vgl. dazu u.a. S. 38).
Verantwortliches politisches Denken und Handeln sollte demnach heißen: Unter Berücksichtigung geschichtlicher und praktisch philosophischer Lehren, in Neuanfängen zu denken und diese in Diskussion und Bewegung zu setzen.
​